Am Freitag, 30. September, zwei Tage vor der angekündigten diesjährigen Gay-Pride in Belgrad, entschied sich Innenminister Ivica Dacic zu einem Verbot der Parade und aller in ihrem Umfeld für das Wochenende angekündigten Gegenveranstaltungen. Die Entscheidung war bereits im Vorfeld begleitet von einer Serie quasi ritueller politischer Auseinandersetzungen.
Serbien liebt Helden. Allerorten in Restaurants und anderen öffentlichen Orten findet man Wände bedeckt mit den Bildnissen von Heroen und auch der größte Hörsaal der philologischen Fakultät heisst „Saal der Heroen“. In dieser Atmosphäre aus der Welt Wagner’scher Opern können Politiker bisweilen auch das schlichte Tragen von Verantwortung öffentlich als einen heroischen und mithin sympathieträchtigen Akt darstellen. Der Innenminister hatte zwar eine Gesamtverantwortung des Kabinetts und des Präsidenten für das Verbot eingefordert, aber dann – nach ihrem Ausbleiben – mit der entsprechenden Rhethorik alles auf seine alleinigen starken Schultern genommen. Er war damit seinem schärfsten Konkurrenten, dem Belgrader Bürgermeister, um wenige Stunden zuvor gekommen.
Wie groß das Bedrohungsszenario wirklich war, und ob es tatsächlich die Kapazitäten der Polizei überstrapaziert hätte, läßt sich von außen schwer ermessen. Die Nachricht machte die Runde, rechtsradikale Gruppen wie Obraz hätten geplant, in diversen Außenbezirken Belgrads Feuer zu legen, um Polizeikräfte dorthin abzuziehen und dann relativ ungehindert im Zentrum der Stadt zuzuschlagen. Wenn dies dem Innenministerium bekannt war, kann es nur durch V-Leute im Milieu ermittelt worden sein. Zugleich hatten die Behörden aber die ordentliche Anmeldung einer Gegendemonstration von Obraz angenommen. Zugleich auch waren alle entscheidenden Rädelsführer der letztjährigen Ausschreitungen von der Justiz längst wieder auf freien Fuss gesetzt worden und konnten unbehelligt Gleiches für dieses Jahr planen.
Aber das Risiko brutaler Ausschreitungen in der Hauptstadt ereilte die Regierung auch in einem denkbar ungünstigen Augenblick. Denn im Süden des Landes, entlang der Grenze zum Kosovo, schwelt seit Monaten ein anderer Krisenherd, und in dieser Krise scheint der Regierung in Belgrad nun der Augenblick gekommen, eine endgültige Entscheidung – nämlich die Teilung des Kosovo und die Annexion des Nordens durch Serbien – international voranzutreiben. Aus diesem Konfliktfeld ist deshalb das Bild von friedlichen, gewaltfrei um ihr angestammtes Recht kämpfenden serbischen Demonstranten in den weltweiten Medien zwingend erforderlich.
Zweimal ist dieser Konflikt zwischen demonstrierenden Serben und der Kosovo-Truppe (KFOR) im Norden des Kosovo bereits eskaliert und hat ein albanisches Todesopfer und mehrere Verletzte auf beiden Seiten gefordert. Aber noch immer glaubt man in Belgrad, von „unbewaffneten, friedlichen Demonstranten“ reden zu können, auf die von KFOR-Seite geschossen wird. Man verbreitet Pressefotos von blutverschmierten Metallkugeln aus dem Operationssaal von Mitrovica, um die Behauptung von KFOR zu widerlegen, dass auf ihrer Seite nur Gummi-Geschosse verwendet würden.
Ganz und gar unpassend wäre da in Belgrad eine Randale von homophoben Radikalen gekommen, zumal diese die gleichen Insignien des vaterländischen Kampfes verwenden wir ihre Kollegen an der Grenze im Süden. Und auch sonst haben sie vieles miteinander gemeinsam.
Der serbische Patriarch Irenej selbst hatte die Regierung am Freitag noch aufgerufen, die „Parade der Scham“ zu verbieten. Er sorge sich darum, so seine Worte, dass dieses Ereignis „die traurige und tragische Situation der Serben im Kosovo in den Hintergrund treten“ lasse zugunsten einer „Gruppe pervertierter Menschen, die ihren Minderheitenstandpunkt der großen Mehrheit der Gesellschaft aufdrängen wollen“.
Wie schon anlässlich der Auslieferung von Radko Mladic nach den Haag wählte die rechtskonservative, aber um Europas Gunst bemühte Fortschrittspartei von Tomislav Nikolic die dem gemeinen Volk sehr einleuchtende Variante, besser nichts zu sagen, weil es in Serbien wirklich „wichtigere Probleme des täglichen Lebens“ gebe als eine Gay-Pride.
Natürlich bedeutet dieses Verbot für die Organisatoren der Pride eine erneute Kapitulation des Staates vor dem Mob von Hooligans. Immer noch haben die politischen Akteure kaum begriffen, dass es galt, die Freiheit von Diskriminierung als solche zu schützen. Immer noch glauben die meisten von ihnen, sie könnten in populistischer Manier „die paar hundert Homosexuellen“ gegen den polizeilichen Aufwand aufrechnen, den deren Schutz erfordert hätte, plus den zu erwartenden Sachschaden, wenn dieser Schutz misslungen wäre.
Ob dies eine Niederlage darstellt?
Für die Organisator/innen der Pride – ja, natürlich; denn es ist bestimmten Kräften in dieser Gesellschaft einmal mehr gelungen, die Pride zu verhindern. Und doch auch Nein, denn das Verbot ist eine Niederlage des Staates gegenüber diesen Kräften, und nicht eine der Organisator/innen dieser Gay-Pride, die sich bis zuletzt dagegen gewehrt haben. Und was bedeutet es für die Entwicklung der serbischen Gesellschaft? Unterm Strich gewiss keine Niederlage. Denn der monatelange Kampf um die Pride war wichtiger als der schlussendliche Erfolg. Das Verbot zeigt eine hässliche Wirklichkeit dieser Gesellschaft, und der Kampf um die Pride macht es unmöglich, sich über diese Hässlichkeit hinweg zu täuschen.
Wolfgang Klotz ist Leiter des Belgrader Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.
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